Mythen, Missverständnisse und Gerüchte

Zehn Halbwahrheiten über Soziokratie

Etabliert und missverstanden

Anders als vor rund zehn Jahren, als ich Soziokratie selbst kennenlernte und praktisch niemand in meinem Umfeld je davon gehört hatte, ist Soziokratie mittlerweile ein Begriff. Sie wird in Architektur, IT, Raum- und Sozialplanung, Wirtschaft, Sozialmanagement, sozialer Arbeit, Pflege und Gesundheit, Bildung und Pädagogik, und auch in anderen Bereichen wie Politikwissenschaften, zumindest am Rande oder teilweise, gelehrt. Soziokratie ist sozusagen „salonfähig“ geworden.

Das freut mich. Es wird gelesen, besprochen, philosophiert und auch ausprobiert.

Doch diese Tatsache ist auch herausfordernd, denn es verbreitet sich jede Menge Halbwissen, was den Boden für Fehlentwicklungen bereitet. Mythen, Vorurteile, Halbwahrheiten, Missverständnisse haben eine beneidenswerte Eigenschaft – sie verbreiten sich schneller als alles andere. Mit Lichtgeschwindigkeit eilen sie von einem zum anderen und weil sie so schnell sind, kommt man auch nicht dazu, zu fragen, wo kommt ihr her und warum habt ihr ein solches Gewicht in unserer täglichen Debatte?

Nimm dir mit mir ein paar Minuten Zeit, um hinter die Kulissen zu schauen.

21./22. Mai 2024
Soziokratie-Einstiegs-Seminar für Führungskräfte

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Wecke die Eigenverantwortung deiner Mitarbeitenden.

Ort: Hotel Schwärzler Bregenz

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Halbwahrheit #1: „Alle entscheiden überall mit“

Nein, tun sie nicht. Jede:r entscheidet im eigenen Kreis mit, innerhalb der eigenen Domäne. Als Mitarbeiter:in entscheide ich mit, wo mein Zuhause ist, mein Arbeitsbereich, wo ich betroffen bin. Marketing entscheidet über Marketingthemen, und in der Regel nicht über Themen der Haustechnik oder IT. Der Entscheidungsrahmen, die Domäne, gibt den Aktionsradius vor. Im Einführungsprozess der Soziokratie wird erforscht, wer wo zu Hause ist, welche Themen auf welche Ebene gehören und es werden Domänen entwickelt.  Diese gemeinsame Abstimmung bildet den Rahmen und verhindert, dass alle überall mitentscheiden.

Halbwahrheit #2: „Endlose Diskussionen, bis man zu einem Konsens kommt“

Da stimmen gleich zwei Dinge nicht.

Missverständnis Nr.1: Diskussionen, so wie wir sie kennen, gibt es im soziokratischen Entscheidungsverfahren gar nicht. Es beginnt mit einer sachbezogenen Informationsrunde, die rational geprägt, und nicht emotionsgesteuert, ein Bild der Ausgangslage formt. Es folgen zwei Meinungsrunden, die genügen, um einen Vorschlag zu formulieren, der konsentfähig ist. Gut strukturiert und moderiert, findet man ein Ergebnis, ohne Debatte. Je besser das Thema vorbereitet ist, desto zielgerichteter kommt man zu einer gemeinsamen Lösung. Immer? Nein, manchmal gibt es so triftige Einwände, die zuerst integriert werden. Das ist auch gut und wichtig. Würden diese Einwände ignoriert, würden wir unser gemeinsames Ziel verfehlen.

Missverständnis Nr.2: Mit der soziokratischen Kreisorganisationsmethode (SKM) entscheiden wir nicht mit Konsens, sondern im Konsent. T statt s, das ist ein grundlegender, das ist der wesentliche Unterschied. Konsent ist das, was die Soziokratie effektiv und auch in schnelllebigen, komplexen Organisationen anwendbar macht. So werden Lösungen kreiert, die man ohne schweren, begründeten Einwand tragen kann. Das Ergebnis wird meine Toleranzgrenze nicht sprengen. Es muss nicht unbedingt meine Lieblingslösung sein, sprengt jedoch auch nicht die Grenzen dessen, was ich mitverantworten kann.

Halbwahrheit #3: „Ich darf nichts mehr allein entscheiden“

Sagt wer? Bestimmt nicht die Soziokratie. Es gilt das Grundprinzip des Konsent, es wird gemeinsam entschieden, welche Regeln und Verantwortungsbereiche wir uns geben. Wir können auch entscheiden, dass eine, einer, dass du entscheidest. Wenn es für uns passt, entscheiden wir gemeinsam, wer wie viel Geld verdient. Wir können jedoch auch entscheiden, wer z.B. im Notfall linear alle anderen anleitet. Wichtig sind die Entscheidungsbereiche, wo hat welche Einzelperson ihren Entscheidungsbereich. Autonom oder semiautonom. Und auch eine Geschäftsführung hat ihren eigenen. Wichtig ist, dass Entscheidungsbereiche transparent sind. Jeder weiß, dass du es allein machst, weil es der Sache dient oder weil es rechtlich notwendig ist. Alle entscheiden innerhalb ihrer Domäne und Domänen sind nicht statisch. Sie können sich verändern.

Halbwahrheit #4: „Soziokratie ist Basisdemokratie“

Nein. Das ist ein gängiges Missverständnis. Soziokratie ist das Zusammenführen der Klarheit einer linearen Organisationsstruktur und der Mitbestimmung in der Basisdemokratie. Die SKM versucht, die Vorteile beider Formen zu verbinden, die Klarheit von Leitung und Ausführung und gleichzeitig das Mitentscheiden der Ausführung auf Augenhöhe mit der Leitung strukturell zu verankern. Gerne werden in rein linearen Organisationen die „unten“ nicht gehört und die „oben“ machen alles alleine und sind auch oft alleine mit der Verantwortung. Allzu oft gibt es eine schlechte Verbindung von „oben nach unten“ und umgekehrt und auch innerhalb der Ebenen fühlen sich Führungskräfte und Mitarbeitende nicht verbunden. Das Wissen von „oben“ bzw. „unten“ erreicht die jeweils anderen nicht.

In der Basisdemokratie wird in der Regel diskutiert, bis es Konsens gibt. Mit einem Veto kannst du eine Entscheidung blockieren. Ja, das kann dauern und die Meinungsbildung hängt von guten Redner:innen ab. Auch sind Funktionen oder auch Prozesse oft gar nicht oder sehr unklar geregelt. Der Vorteil: Minderheiten können nicht übergangen werden.

Die Mitbestimmung der Basisdemokratie kommt zur linearen Organisationsstruktur hinzu. Die Klarheit von Leitung und Ausführung bleibt bestehen.

Halbwahrheit #5: „Und wenn es brennt, dann ist die Soziokratie am Ende“

Nicht, wenn die Regeln klar sind. Die Menschen einer Organisation können vorher klären, wie verfahren wird, wenn es brennt. Wer Expertise hat oder bei der Feuerwehr ist, leitet an. Wenn gemeinsam entschieden wurde, dass in einer Notsituation eine:r linear die anderen leitet und autokratisch entschieden wird, ist das so. Dieses Handlungsmuster greift dann, wenn es eine Notsituation gibt und was eine Notsituation ist, sagt der Grundsatz. Dieser wiederum wird im Vorfeld gemeinsam festgelegt und bei Bedarf angepasst.

Halbwahrheit #6: „Soziokratie ist die Abschaffung der Hierarchien“

Stimmt nicht. Hierarchie ist oft negativ besetzt. Und die Geschichte ist lang, die das Ausnutzen von Hierarchie belegt. Das Wort kommt aus dem Altgriechischen, hieros, heilig und arche, Ordnung, Führung, also „heilige Ordnung“. Hierarchie beinhaltet, welche Abläufe funktionieren, was ist sinnvoll, was funktioniert wie, wer ordnet was an. Soziokratie kennt Hierarchie, allerdings in einer anderen Ausprägung. Es gilt zu definieren, welches Thema auf welcher Ebene zu Hause ist. Es geht um Hierarchie, also Ordnung von Entscheidungsebenen, nicht um Personenhierarchie. Wenn klar ist, auf welcher Ebene das Problem zu Hause ist, ist auch klar, wer entscheidet. Im Leitungskreis, wo alle großen Bereiche einer Organisation zusammenkommen, wird eine andere Flughöhe gebraucht. Das Thema bestimmt die Ebene der Ordnung, die Entscheidungsebene.

Halbwahrheit #7: „Es gibt keine Chefs mehr“

Doch, Führung allgemein und Personen, die führen, bleiben wichtig. Oft sind Leute überrascht, dass es in der Soziokratie eine Leitungsfunktion gibt. Manche sind auch darüber enttäuscht, dass es weiterhin disziplinarische Vorgesetzte gibt und Menschen, die ein Team, einen Kreis leiten sollen, in dem gemeinsam bestimmt wird. Jeder Kreis hat eine Leitung. Auch die Fähigkeiten, die Leitungsmitgliedern immanent sind, werden unbedingt gebraucht.  Aber: Grundsatzentscheidungen werden nicht mehr allein getroffen. Ich muss als Chef:in nicht alles wissen. Das Wissen des Teams wird gewichtiger, das letzte Wort liegt nicht immer bei der Leitung. Er oder sie sind enger mit dem Team verbunden. Menschen in Leitungsfunktionen haben mehr eine dienende Funktion für ihr Team. Sie leiten an, gemeinsam wird überlegt, welche Abläufe verbessert werden sollten und gemeinsam wird in den Kreisen eine Entscheidung getroffen. So entsteht ein Arbeitsklima auf Augenhöhe, Gemeinschaft.

Halbwahrheit #8: „Konsent bedeutet, alle sind mit allem einverstanden“

Stimmt nicht. Konsent bedeutet, wenn alle Konsent geben, hat niemand einen schwerwiegenden, begründeten Einwand im Sinne unseres gemeinsamen Ziels. Konsent heißt nicht, jeder ist zu 100% damit einverstanden. Konsent heißt, die Entscheidung ist gut genug für jetzt und sicher genug, sie zu testen. Keine Entscheidung ist dabei unumstößlich. Idealerweise wird sie auf eine bestimmte Zeit terminiert. Im Moment ist es gut und in drei Monaten z.B. schauen wir, ob sie sich bewährt hat. Bei Bedarf passen wir sie an und entscheiden neu.  

Halbwahrheit #9: „Konsent bedeutet, ich bin mit 80% der Punkte einverstanden“

Das stimmt so nicht. Das ist nicht die Grundbedeutung von Konsent. Ich gebe mein okay, wenn ich für unser Projekt, unser Ziel keine Gefährdung sehe. Das heißt nicht, ich bin zu 80% damit einverstanden. Prozentangaben sind ungeeignet. In einer Konsententscheidung spielen meine eigenen Bedenken eine Rolle. Dabei bedenke ich in der Selbstreflektion, wo meine Schmerzgrenze ist. Konsent ist keine quantitative, sondern eine qualitative Entscheidung. Wenn ich das Projekt in Gefahr sehe, äußere ich mich und gebe meinen Konsent nicht. Wichtig ist dabei, dass ich meinen Einwand begründe. Es gilt der Rat: Hör in dich hinein. Wenn du Bedenken hast, gib keinen Konsent. Und: es braucht dafür keine umfassenden Fachkenntnisse, auch ein Bauchgefühl kann ein Einwand sein.

Halbwahrheit #10: „Ab sofort ist alles anders“

Selbstverständlich nicht. Es ändert sich viel. Das stimmt. Das Einführen der Soziokratie – also Mitbestimmung und Selbstorganisation zu verankern - in einer Organisation ist ein intensiver Transformationsprozess, ein kultureller Wandel. Diesem Prozess muss man sich stellen. Das Bekenntnis und das Vorleben der Geschäftsführung bzw. der Führungsebene ist entscheidend. Weil sich sehr viel verändert und ein hohes Maß an Teilhabe integriert wird, werden alte Verhaltensregeln hinterfragt, um den Umlernprozess, den stetigen Lernprozess zu beginnen. Das geht nicht in ein paar Monaten und auch die Bildung der Kreise genügt nicht allein.

Das ändert sich wirklich: Mit Beginn des Einführungsprozesses wird gelernt und damit hört das Unternehmen dann auch nicht mehr auf. Eine lernende Organisation zu sein heißt, dass sie lernend bleibt und sich selbst regeneriert. Das ist der eigentliche Gewinn. Die Führung lebt den Prozess vor, investiert Zeit und Geld und akzeptiert Begleitung. Soziokratieexpertise ist hier gefragt. Wäre es einfach, das eigene Verhalten zu hinterfragen, die blinden Flecken aufzudecken und zu verändern, würde es die Herausforderungen im Unternehmen nicht geben. So ehrlich muss man sein. Die Begleitung des Prozesses ermöglicht die schrittweise Veränderung. Kreise zu gründen, ist noch keine Soziokratie. Mit den Kreisen ist die Voraussetzung für eine lernende Organisation geschaffen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Menschen wollen ihre Potentiale entdecken und nutzen, sie wollen stetig wachsen, gehört werden und sich auch einbringen können. Ein solcher Prozess ist daher auch Zeitinvestition. Je nach Größe der Organisation dauert es eineinhalb bis drei Jahre oder auch länger und hängt von der Stärke der Veränderung ab. Doch wer diesen Weg sorgsam geht, sieht schon bald die ersten Samen sprießen, Blüten an den verschiedensten Stellen knospen und kann sich auf die reifen Früchte freuen.

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Einstieg und Vertiefung für Führungskräfte, um Soziokratie und deren Prinzipien von Partizipation, Kooperation und Selbstorganisation näher kennenzulernen und zu erleben.

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Anja Ritter | Soziokratie unternehmen.

Mag. Anja Ritter
Certified Sociocracy Expert CSE
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